Überblick

Die Arbeitsstelle zur Edition der naturwissenschaftlichen, medizinischen und technischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz wurde im Januar 2001 an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften eingerichtet. Die Reihe VIII (‘Naturwissenschaftliche, medizinische und technische Schriften’) ist ein integraler Bestandteil des interakademischen Forschungsprojekts Leibniz-Edition, das von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (mit Arbeitsstellen in Hannover und Münster) und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (mit Arbeitsstellen in Potsdam und Berlin) betreut wird und zum Ziel hat, Sämtliche Schriften und Briefe von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) historisch-kritisch zu edieren.

Mit rund 100.000 Blatt, die Leibniz überwiegend in lateinischer, französischer und deutscher Sprache und meist undatiert hinterließ, ist einer der größten Gelehrtennachlässe überhaupt erhalten geblieben. Er liegt in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover (GWLB), enthält Textträger verschiedenen Formats (Bögen, einzelne Papiere, Zettel, Schnipsel) und umfasst unterschiedliche Textsorten (Abhandlungen, Entwürfe, Exzerpte, Notizen, Skizzen, Zeichnungen, Exposés) sowie ca. 20.000 Briefe, die seit 2007 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe gehören. Dass dieser so umfangreiche Nachlass verglichen mit anderen fast vollständig und unversehrt überliefert wurde, ist dem letzten Dienstherrn von Leibniz, dem hannoverschen Kurfürsten und englischen König Georg I., zu verdanken. In dessen Besitz gingen die Schriften, Briefe und Bücher von Leibniz über, die Bestand der Königlichen Bibliothek zu Hannover blieben. Dies macht den Leibniz-Nachlass zu einem Glücksfall für die Forschung nicht nur zu Leibniz, sondern zu vielen Gebieten der Geistes- und Naturwissenschaft wie auch der Technik, mit deren Themen sich der Universalgelehrte auseinandersetzte.

Dass seine Schriften und Briefe aufgeteilt in acht Reihen ediert werden, ist der hohen hierfür nötigen Spezialisierung geschuldet, die nur durch eine wissenschaftliche Ausbildung zu erlangen ist, die heute getrennt nach verschiedenen Disziplinen erfolgt. Universell ist Leibniz nicht nur, weil er sich mit so vielen verschiedenen Themen beschäftigte, die heute in sehr unterschiedliche Gebiete der Natur- und Geisteswissenschaften fallen, sondern auch weil er Gegenstände jeweils in ihrer Vielfalt, in verschiedenen Bezügen und Dimensionen untersuchte. Dieses Denken in Zusammenhängen zeichnet auch seine Schriften zur Naturwissenschaft, Medizin und Technik aus. So entwickelt er in Auseinandersetzung mit Phänomenen der Mechanik seine mathematischen Konzepte und Methoden (Reihen III und VII), insbesondere die Infinitesimalrechnung. Seine grundlegende Vorstellung von einer Harmonie in der Welt beschränkt sich nicht auf eine rein philosophische Betrachtung (Reihen II und VI), sondern findet eine konkret physikalische Bestätigung im Satz der Energieerhaltung. Seine Beschäftigung mit Medizin hat zugleich eine politische und soziale Tragweite (Reihe IV), um das Leben der Menschen zu verbessern. Seine Forderung ‘Theoria cum praxi’ findet hier wie auch in seiner Beschäftigung mit Technik ihren Niederschlag, wo Kraftmaschinen die Bergwerksarbeit und Rechenmaschinen die Denkarbeit erleichtern sollten.

 

Gründung und Entwicklung der Reihe VIII

Im Zuge der Bearbeitung der Reihen III (‘Mathematischer, naturwissenschaftlicher und technischer Briefwechsel’) und VII (‘Mathematische Schriften’) wurde deutlich, dass die unveröffentlichten Schriften zur Naturwissenschaft, Medizin und Technik im Nachlass einen Umfang einnehmen, der die Bearbeitung in einer eigens zu schaffenden Reihe nötig machte. Die neu gegründete Arbeitsstelle Leibniz-Edition Berlin nahm im Januar 2001 ihre Arbeit auf. Mit ihrer Gründung sollte die Reihe VIII helfen, die Gesamtlaufzeit der Leibniz-Edition zu verkürzen; die Bearbeitung sollte in internationaler Kooperation erfolgen und dafür die technischen Möglichkeiten nutzen, die die sich durch Internet und Digitalisierung ergaben. Die Berliner Arbeitsstelle sollte damit zugleich an die Anfänge der Leibniz-Edition anknüpfen, die als internationales, deutsch-französisches Vorhaben vor dem Ersten Weltkrieg gestartet war.

Die Leibniz-Edition Berlin war zunächst als Redaktionsstelle („Kopfstelle“) konzipiert, um Arbeitsergebnisse einzuholen und zu endredigieren. Umfangreich eingeworbene Drittmittel schufen hierfür die technische Grundlage: Der gesamte für Reihe VIII vorgesehene Anteil des Nachlasses wurde hochauflösend gescannt (inklusive Durchlichtscans zur Sichtbarmachung von Wasserzeichen) und zusammen mit einer eigens digitalisierten Fassung des Nachlass-Katalogs ("Ritter-Katalog", zur Archivversion) online zur Verfügung gestellt (vormals:http://ritter.bbaw.de), so dass via Internet die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Paris, Moskau oder Petersburg auf die Vorlagen für ihre Editionsarbeit zugreifen konnten. Zudem konnte eigens für Reihe VIII eine XML-ähnliche Auszeichnungssprache („Bremer Format“) entwickelt werden, mit der die Handschriften in Frankreich und Russland aufgenommen wurden. Dieses Format erlaubte es, die Arbeitsergebnisse nach HTML zu konvertieren und als Internetedition zu präsentieren; ein weiterer Ausbau der Arbeitsumgebung machte es möglich, daraus LaTeX-Daten zu generieren, um eine PDF-Druckvorlage zu erzeugen, die dem Layout der Leibniz-Edition entsprach und erlaubte, die edierten Schriften der Reihe VIII auch in Form gedruckter Bände zu veröffentlichen.

In ihrer ursprünglichen Konzeption war die Leibniz-Edition Berlin darauf angewiesen, aus ihrer internationalen Kooperation einen Rücklauf an Arbeitsergebnissen zu erhalten. Da die freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in keinem Dienstverhältnis standen, andere Verpflichtungen hatten, mitunter wechselten oder aus der Kooperation ausschieden und auch eingearbeitet werden mussten, entsprachen die Arbeitsergebnisse quantitativ und qualitativ nicht immer den Erwartungen. Um den Arbeitsfortschritt des Vorhabens nicht zu gefährden, wurde die personelle Ausstattung der Leibniz-Edition Berlin verstärkt, und die Aufnahme der Handschriften verlagerte sich mehr und mehr nach Berlin, an die Arbeitsstelle selbst. Die Bearbeitung konnte dadurch verlässlich und planbar erfolgen, um den ersten Band der Reihe fertigzustellen, der 2009 im Druck erschien.

Im Zuge dieser und der weiteren Bearbeitung traten aber auch technisch Grenzen der ursprünglichen Konzeption zu Tage. Die geschaffene Arbeitsumgebung zielte zwar auf die Schaffung einer Hybrid-Edition ab – eine Pionierleistung bzw. der „Vorreiter einer Editionspraxis“, wie sie als „richtungsweisend“ im Gutachten der Projektevaluation von 2012 herausgehoben wurde –; dieses Ziel war allerdings mit den technischen Mitteln der Zeit verfolgt worden: Bei der Auszeichnungssprache handelte es sich um ein proprietäres Format, das den Standards (XML/TEI), die sich zeitgleich herausbildeten, nicht entsprach und daher keine Zukunft haben konnte. Überdies war die Auszeichnungssprache in erster Linie darauf ausgelegt worden, HTML-Seiten für die Internetedition generieren zu können, nicht aber darauf, Druckseiten im Layout der Leibniz-Edition zu setzen. Daher mussten die Daten, um sie nach LaTeX für die zu erstellende Druckvorlage zu konvertieren, zuvor aufbereitet und anschließend noch nachbearbeitet werden. Somit war es (anders als bei einer Hybrid-Edition) nötig, einmal aufgenommene Texte getrennt nach Internet und Druck zu behandeln, was letztlich Arbeit an zwei Editionen nach sich zog.

Aus technischen und arbeitsökonomischen Gründen entschied sich die Arbeitsstelle 2013 dazu, die Handschriften vorerst direkt und ausschließlich in LaTeX aufzunehmen, zumal gedruckte Bände nicht nur Teil der Zielvorgaben für Reihe VIII waren, sondern für das interakademische Vorhaben der Leibniz-Edition auch als Abrechnungseinheit dienen, um den Bearbeitungsfortschritt einer Reihe zu bemessen. Dank dieser Konzentration auf die PDF-Druckausgabe konnte der zweite Band der Reihe im Sommer 2016 erscheinen und der dritte noch innerhalb des ersten Bewilligungszeitraums bis 2020 fertiggestellt werden. In Verbindung mit der im Jahr 2018 durchgeführten Projektvaluierung der gesamten Leibniz-Edition wurde erfolgreich ein Antrag eingereicht, das Vorhaben Reihe VIII über die Schnittstelle (2020) hinaus bis 2030 fortzuführen.

Die bei Gründung der Arbeitsstelle angestrebte Hybrid-Edition wurde 2012 als „innovative Editions-praxis“ in der Projektevaluation gewürdigt. Technisch umgesetzt worden war sie ohne echte Vorbilder mit Hilfe einer proprietär entwickelten Lösung, die sich auf kein standardisiertes Format stützte. Diese in den Jahren 2001 bis 2007 entstandene Arbeitsumgebung wies nicht nur die oben (unter Punkt 3) aufgezeigten Einschränkungen auf. Überholt war sie auch angesichts der weiteren Entwicklung im Bereich der Digital Humanities, die mit einer Standardisierung der Forschungs-datenformate einherging. Die ursprüngliche Arbeitsumgebung erfüllte damit auch in struktureller Hinsicht nicht mehr die Voraussetzungen, um Reihe VIII als Hybrid-Edition zu erarbeiten und die Arbeitsergebnisse nachhaltig und ver- netzbar zur Verfügung zu stellen. Die im Zuge der Bearbeitung von Band 2 getroffene Entscheidung, sich auf die Druckausgabe bzw. auf PDF-Dateien zu konzentrieren, war aus rein pragmatischen Gesichtspunkten und mit dem festen Vorsatz getroffen worden, die Editionsergebnisse im Falle einer Verlängerung des Vorhabens auch auf Basis des Standardformats (XML/TEI), das sich inzwischen für digitale Editionen etabliert hat, bereitzustellen. Damit soll gewährleistet werden, dass die Forschungsdaten des Projekts nachhaltig über offene Schnittstellen nachnutzbar und vernetzbar zur Verfügung stehen. Um die Editionsergebnisse in der standardisierten Dateistruktur XML TEI P5 bereitstellen zu können, werden die Datensätze der weiterhin LaTeX aufgenommenen Handschriften bändeweise nach XML konvertiert und gemäß eines eigens für die Leibniz-Edition erstellten TEI-Schemas modelliert. Die LaTeX-, PDF- und XML/TEI-Daten für die Bände der Edition sind über Leibniz Online abrufbar.